Der Zweck heiligt die Mittel


Autor*in: Julia Thiem

Amtsmissbrauch, Vergewaltigung, Unterschlagung, dann die Tonaufnahmen, auf denen er sagt, er habe das Coronavirus zu Jahresbeginn bewusst heruntergespielt, um eine Panik zu verhindern: Die Liste der Vorwürfe gegen den amtierenden US-Präsidenten Donald Trump ist lang. In den meisten Fällen schaden sie ihm politisch kaum. Dass Trump nach zahlreichen fragwürdigen Manövern von einem großen Teil der US-Amerikaner*innen unterstützt wird, hat er ausgerechnet den Evangelikalen in den USA zu verdanken – „trotz seines ‚amoralischen‘ Lebenswandels“, wie Professor Dr. Dr. Heinrich Wilhelm Schäfer betont. Der Religionssoziologe ist Mitglied des Center for InterAmerican Studies (CIAS) und des Center for the Research on Religion and Society (CIRRuS) der Universität Bielefeld. Sein Forschungsschwerpunkt sind die Freikirchen in den USA und Lateinamerika, deren Einfluss auf die Politik er seit Langem untersucht.

Auch wenn er beide Lager erforscht: Dem Religionssoziologen Heinrich Wilhelm Schäfer sind die linken Evangelikalen deutlich näher als die religiöse Rechte. Foto: Universität Bielefeld/M.-D. Müller

Andere Werte

Evangelikale sind Christ*innen. Ihre Werte unterscheiden sich jedoch deutlich von denen der eher säkular geprägten Christ*innen in Europa. „Wenn wir uns die Wurzeln der Evangelikalen anschauen, wird klar, warum: Die Pilger-Väter, in Europa verfolgt, haben auf dem neuen Kontinent ihr Reich Gottes auf Erden gefunden. Dieses neue Jerusalem, das in ihrer Vorstellung von Gott selbst initiiert wurde, beanspruchen sie für sich allein“, erklärt Schäfer.

In einer solchen Wertewelt ist die Bibel eine irrtumsfreie und unumstößliche Autorität. Und es lässt sich gut in „wir“ und „die“ unterschieden. Schäfer führt hierfür ein Beispiel an: „Wer für Abtreibung ist, tötet. Dahinter verbirgt sich eine kategorische, pauschale Abqualifizierung von politischen Gegner*innen.“ Und genau an diesem Punkt hat Trump die Evangelikalen gepackt – vor allem die religiöse Rechte.

Republikaner*innen und die religiöse Rechte

„Trump symbolisiert die Werte der religiösen Rechten beziehungsweise nutzt diese Werte gezielt, um Stimmen von Wählerinnen für sich zu generieren. Dabei ist die Person im Amt quasi irrelevant. Wichtig ist nur, wofür sie steht“, betont Schäfer. Ein augenscheinliches Beispiel dafür, wie Trump vorgeht, um seine evangelikalen Wähler zu mobilisieren, war die Szene im Juni vor der Kirche St. John’s in Washington, D.C. Der Präsident ließ sich dort während einer Demonstration gegen Rassismus mit einer Bibel in der Hand fotografieren. Um vor die Kirche zu gelangen, hatte er Beteiligte der „Black lives matter“-Demonstration mit Tränengas vertreiben lassen. In diesem Fall waren die Reaktionen der Evangelikalen gemischt. Die symbolische Geste sei völlig angemessen gewesen, sagte zum Beispiel Robert Jeffress, Leiter der „First Baptist“-Kirche in Dallas und enger Berater des Präsidenten. Die örtliche Bischöfin zeigte sich wiederum empört. Trumps Botschaft stehe im Gegensatz zur kirchlichen Lehre, sagte sie.

Donald Trump ist bei Weitem nicht der erste Präsident, der sich als „von Gottes Gnaden“ inszeniert. Die enge Verflechtung zwischen der republikanischen Partei in den USA und der religiösen Rechten besteht seit vielen Jahrzehnten. Angehörige der religiösen Rechten haben innerhalb der Partei nicht nur wichtige Ämter besetzt, sondern zählen auch viele namhafte Politiker*innen zu ihrem Lager, wie Schäfer zu berichten weiß. Deutlich wird die direkte Ansprache religiöser Wähler*innen schon bei der Wortwahl vieler Republikaner*innen. Ein Beispiel ist die berühmte „Achse des Bösen“, mit der Präsident George W. Bush 2002 zahlreiche Länder regelrecht verteufelte.

Auch am Beispiel von Trumps Herausforderer Joe Biden von den Demokraten zeigt sich, wie bedeutsam das evangelikale Lager in US Präsidentschaftswahlen ist. So engagierte Biden für seine Wahlkampagne den evangelikalen Berater und früheren Republikaner Josh Dickson als Koordinator zu Glaubensfragen. In einer evangelischen Kirche in der Stadt Kenosha hielt Biden im September eine Rede gegen Rassismus. In Kenosha war es zu gewalttätigen Ausschreitungen gekommen, nachdem ein schwarzer Amerikaner bei einem Polizeieinsatz lebensgefährlich verletzt worden war.

Exportschlager Freikirchen

Die Verflechtung zwischen Politik und Kirche wird aber nicht nur in den USA immer enger. Wer den Wahlkampf des brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro verfolgt hat, erkennt Parallelen, im evangelikalen Lager um Wähler*innenstimmen zu werben. Bolsonaro fiel mit rassistischen, frauenfeindlichen und homophoben Äußerungen auf. Sein direkter Draht nach oben: der Pfingstler Silas Malafaia. Der Prediger hat sich schon im Wahlkampf hinter Bolsonaro gestellt, man teile dieselben Werte. Abtreibung sei ein Verbrechen, die Familie heilig. Dass Bolsonaro eigentlich Katholik und bereits zum dritten Mal verheiratet ist – nebensächlich.

Auf Lateinamerika übergeschwappt ist der Protestantismus durch amerikanische Einwanderer*innen und Missionar*innen – beginnend in den 1830er-Jahren zur Zeit des Unabhängigkeitskampfes gegen die spanische Krone. Der Missionsprotestantismus hat sich in Lateinamerika allerdings gemäß den dort geltenden Lebensformen stark verändert.

„Neben der religiösen Rechten gibt es auch ein linksliberales Spektrum, für das – obwohl religiös sehr konservativ – vor allem soziale Gerechtigkeit im Mittelpunkt steht. Während die religiöse Rechte die Demokratie regelrecht untergräbt, wird sie von linken Freikirchen gefördert“, sagt Schäfer. Das schlägt sich auch im Rückfluss des Protestantismus aus Lateinamerika in die USA nieder. Die teils katholischen, teils pfingstlichen Migrant*innen aus Lateinamerika bringen das religiöse Feld in den USA in Bewegung.

Und das dürften auch Trump und künftige republikanische Präsidentschaftskandidat*innen spüren. „2016 wurde Trump nochmit 81 Prozent der Stimmen weißer Evangelikaler ins Amt gewählt. In Zukunft dürfte das nicht mehr reichen, da sich das Gewicht der weißen Evangelikalen verringert. Es gibt Berechnungen, dass den Republikaner*innen schon 2024 selbst mit 100 Prozent der Stimmen aller weißen Evangelikalen mindestens drei Prozent zur Mehrheit fehlen“, erklärt Schäfer. „Dank der linksliberalen Strömungen aus Lateinamerika besteht also Hoffnung, dass sich die Plutokratie USA dem demokratischen Wertesystem in Zukunft wieder etwas annähert.“

Dieser Artikel ist eine Vorabveröffentlichung aus „BI.research“, dem Forschungsmagazin der Universität Bielefeld. Die neue Ausgabe des Magazins erscheint im Oktober 2020.