Die theoretische Universität als Jubiläumsthema


Autor*in: Jörg Heeren

Zu ihrem Jubiläum richtet die Universität Bielefeld ein wissenschaftliches Programm aus. Der Titel: „Die theoretische Universität“. Mitte Mai beginnt das Programm mit einer Vortragsreihe. Im November diskutieren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auf der großen Jubiläumskonferenz. Schließlich folgt im Dezember ein Workshop unter dem Titel „Kontroversen“. Hinter dem Jubiläumsprogramm steht ein eigenes Programmgremium – das Scientific Board.

„Die unterschiedlichen Formate des wissenschaftlichen Programms bieten allen die Gelegenheit, darüber nachzudenken, wofür unsere Universität steht, was unsere Geschichte für uns bedeutet und welche Themen und Forschungsschwerpunkte in die Zukunft weisen“, sagt Professorin Dr. Angelika Epple. Die Historikerin ist die Vorsitzende des Scientific Boards, das das wissenschaftliche Programm entwickelt hat und aus fünf Mitgliedern besteht. „Mit dem Titel des Programms knüpfen wir an den ursprünglichen Gedanken an, in Bielefeld eine Reform- und Forschungsuniversität zu errichten, in der sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler hauptsächlich mit der Theoriebildung befassen – und das interdisziplinär, um große Fragen aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu beantworten“, sagt Angelika Epple. „Seit einigen Jahren ist zu beobachten, dass die verschiedenen Wissenschaften zunehmend mit Big Data arbeiten. Forschende werten große Datenmengen automatisiert aus, um Phänomene zu erklären. Was bedeutet das für theoretische Forschung? Der Frage wollen wir im wissenschaftlichen Programm und besonders der Jubiläumskonferenz nachgehen.“

Theorien und Theoriebildung auch interdisziplinär in den Blick nehmen

„Das wissenschaftliche Programm bietet eine gute Gelegenheit, über das Selbstverständnis der Universität zu reflektieren“, sagt Dr. Britta Padberg, Mitglied des Scientific Boards und Geschäftsführerin des Zentrums für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld. „In diese Auseinandersetzung spielen mehrere Faktoren hinein: die wissenschaftspolitische Entwicklung, dass Universitäten eine zunehmende Menge an Studierenden betreuen und qualifizieren müssen, während sie gleichzeitig erstklassige Forschung leisten sollen und dabei mit anderen Universitäten in wachsender Konkurrenz stehen. Hinzu kommt die verstärkte Forderung nach anwendungsorientierter Forschung, die Grundlagenforschung gegenübersteht.“

„In den 1960er-Jahren war es selbstverständlich, Theorien einzusetzen und so Wissenschaft als diese zu begründen“, sagt der Literaturwissenschaftlicher Professor Dr. Kai Kauffmann, ebenfalls Mitglied des Programmgremiums. „Inzwischen wird auch in den Geistes- und Sozialwissenschaften über das Ende der Theorien diskutiert. Es ist natürlich umstritten, ob Theorien tatsächlich ihre große Bedeutung eingebüßt haben – zumal der Ruf als gute Forscherin oder guter Forscher auch heute noch in vielen Disziplinen damit verbunden ist, ob jemand theorieorientiert arbeitet.“ Dennoch: Auch in der Literaturwissenschaft gebe es erste Forschende, die sich mit Big Data hervortun und tausende literarische Texte einlesen, um sie einer automatischen Analyse zu unterziehen.

Zu große Erwartungen an Big Data?

„In den Naturwissenschaften ist die Suche nach einer einheitlichen Theorie nach wie vor ein untergründiges Hauptthema“, sagt der Physiker Professor Dr. Günter Reiss, der ebenfalls dem Scientific Board angehört. „Aber viele existierenden Theorien sind sehr kompliziert, sodass es schwierig wird, sie experimentell zu überprüfen. Die Stringtheorie zum Beispiel ist ein hochkomplexes mathematisches Konstrukt und eignet sich kaum für praktisch relevante Gebiete. Mit Big-Data-Analysen werden hingegen inzwischen Vorhersagen möglich, was passieren wird – etwa, wie sich ein bestimmtes Auto unter bestimmten Bedingungen beim Crashtest verhält.“

In der Diskussion in den Wissenschaften seien die Erwartungen an die Möglichkeiten von Big-Data-Analysen allerdings womöglich überzogen, sagt Professor Dr. Herbert Dawid vom Scientific Board. „Mit der Big-Data-Welle könnte die Annahme verbunden sein, dass man die Welt versteht, wenn man ausreichend viele Daten hat und ausreichend gute Algorithmen, also Berechnungsverfahren, die in den Daten bestimmte Muster erkennen“, sagt der Wirtschaftswissenschaftler. „Wir gehen der Frage nach, ob Big Data die Theorien ersetzen können. Vielleicht kommt es in Zukunft eher auf ein Zusammenspiel von Big-Data-Analysen und Theorien an.“

Die Vortragsreihe

Im Mai beginnt die Vortragsreihe im wissenschaftlichen Programm zum Jubiläum: „Transcending Boundaries. Impulse zu den Forschungswelten der Universität Bielefeld“. Professorinnen und Professoren aller Fakultäten, vor allem Neuberufene, stellen ihre aktuellen Arbeiten vor und sprechen darüber, welche Ideen und Anwendungen sie mit ihrer Forschung verbinden. Beginn ist am 15. Mai um 16 Uhr unter der Überschrift „Globalising World: Chancen und Herausforderungen Globaler Welten“ im Gebäude X (Hörsaal X-E0-001). Weitere Themen sind zum Beispiel „Medizinische Forschung: Welche Medizinforschung passt zur Universität Bielefeld“ am 10. Juli und „Schulbezogene Forschung: Welche Schule(n) haben wir? Welchen Unterricht brauchen wir?“ am 6. November. Weitere Termine auf der Website zum wissenschaftlichen Jubiläumsprogramm.

Die Konferenz

Die Jubiläumskonferenz am 14. und 15. November steht unter dem Titel „Die theoretische Universität im Zeitalter der Daten: Haben sich die großen Theorien überlebt?“ Zunächst diskutieren die Forschenden innerhalb ihrer Fachbereiche, was Theorien für die jeweiligen Disziplinen bedeuten. In vier parallelen Workshops geht es um „Theoriebildung zur modernen Gesellschaft“, „Textkulturen der Gegenwart“, „Big Data: von Maschinenlernen zu Quantencomputern“ und „Interdisziplinäre Modelle für eine komplexe Welt“. Danach kommen alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer zum Austausch in der Halle der Universität zusammen. Dort diskutiert ein interdisziplinär besetztes Podium über Theoriebildung und ihre Reichweite in unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen. Die Hauptvorträge halten die Wissenschaftsphilosophin Professorin Nancy Cartwright PhD von der University of California in San Diego, USA, und der Stringtheoretiker Professor Robbert Dijkgraaf PhD, der das Institute for Advanced Study in Princeton, USA, leitet. Teil der Jubiläumskonferenz ist die Studierendenkonferenz „Student Research: Studierende machen Wissenschaft“ am 14. November, auf der Studierende ihre Themen als Forschende präsentieren können.

Der Workshop

Zur Geschichte der Universität Bielefeld gehören auch kontroverse Ereignisse, etwa die Diskussion um Professor Dr. Helmut Schelsky, Planer und Gründer der Universität, die Proteste gegen Studienbeiträge oder die Kritik an Ansätzen aus der jüngeren Vergangenheit der Reformpädagogik. Mit diesen Themen befasst sich der Workshop „Kontroversen“ am 4. und 6. Dezember. Zu den drei Kontroversen wird es einleitende Stellungnahmen geben. Daran schließt sich eine Diskussion mit und zwischen den Vortragenden an: Wie werden die Kontroversen heute gesehen? Was für eine Streitkultur wird an der Universität Bielefeld gepflegt?

Zu den Veranstaltungen des wissenschaftlichen Programms zum Universitätsjubiläum sind alle Interessierten eingeladen.